Frage:
Liebe Vivian
Ich bin 48 Jahre alt und habe mein gesamtes bisheriges Leben die Erfahrung gemacht, dass Menschen auf mich zukommen, die meine Hilfe brauchen. Daraus sind dann immer Freundschaften entstanden, und ich habe diesen Menschen – soweit ich das konnte – in ihren schwierigen Lebenssituationen auch geholfen. Doch jedes Mal, wenn meine „Aufgabe“ erfüllt war, löste sich diese Freundschaft in Nichts auf. Ich habe darunter immer sehr gelitten, weil ich mir das nicht erklären konnte und ich nicht weiss, wie ich mit dieser Erfahrung umgehen soll.
Antwort:
Liebe Marion
Es ist schmerzhaft für das Ego, wenn wir das Gefühl haben, eine Freundschaft besteht nur so lange wie wir gebraucht werden. Nun sind Freundschaften, die auf einem Ungleichgewicht zwischen Geben und Nehmen basieren grundsätzlich sehr gefährdet nur solange zu bestehen, bis die eine Seite bekommen hat, was sie braucht. Allerdings würde ich in diesem Fall auch nicht von einer Freundschaft sprechen, sondern eher von einer Zweck- oder Interessensgemeinschaft. Ich nehme an, dass Sie grundsätzlich gerne helfen und dass Sie diese Hilfsbereitschaft auch ausstrahlen. Insofern dürfte es für Sie entsprechend schwierig sein herauszufinden, ob jemand Ihre Nähe sucht, weil er Hilfe braucht oder mit Ihnen um Ihrer selbst willen befreundet sein möchte. Ich persönlich kenne viele Helfer, die genau aus diesem Grund privat sehr zurückgezogen leben.
Von daher würde ich Ihnen empfehlen, bei sich selbst anzusetzen. Prüfen Sie einmal genau, ob Ihnen das Helfen wirklich Freude macht. Denn dann bestünde idealerweise der „Gegenwert“ Ihrer Hilfsbereitschaft in genau dieser Freude, und Sie müssten keine Gegenleistungen erwarten, würden auch entsprechend nicht enttäuscht. Eine Erkenntnis aus Ihren bisherigen Erfahrungen könnte ausserdem sein, dass Sie selbst – und nur Sie – für Ihr Glück und Ihre Zufriedenheit zuständig sind. Sorgen Sie also für sich, zum Beispiel, indem Sie entscheiden, wem Sie sich widmen wollen. Also auf Menschen zugehen, mit denen eine gleichberechtigte Freundschaft möglich ist, anstatt auf die Avancen Hilfsbedürftiger zu warten. Und sagen Sie im Zweifelsfall auch mal „Nein“. Das sind Sie Ihrer besten Freundin schuldig: sich selbst.
Ich wünsche Ihnen alles Gute
Beste Grüsse
Vivian